Noch ist Europa nicht verloren

Die EU muss ihr Krisenmanagement weiter verbessern. Es gilt, zusammenzuhalten und solidarisch zu handeln.

Die Corona-Krise ist eine beispiellose Herausforderung für ganz Europa. Es ist alles andere als sicher, dass die EU diese Krise geeint übersteht. Noch ist Europa aber nicht verloren, sondern kann sich als das beweisen, was es ist: eine politische Schicksalsgemeinschaft, deren Stärke auf Zusammenhalt beruht.

Schaut man auf die vergangenen Wochen zurück, so muss man nüchtern feststellen: Europa hat zunächst keine gute Figur in der Krise abgegeben. Grenzen wurden unabgestimmt abgeriegelt, nationale Exportverbote für medizinische Produkte einseitig verhängt. Statt gemeinsamer Lösungen gab es zu oft gegenseitige Vorwürfe. Es waren Tage, die gezeigt haben, wie leicht der Ungeist des Egoismus wieder aus der Flasche befreit werden kann.

Mittlerweile hat Europa in der Krise Boden gut gemacht. Es gibt gemeinsame Regeln, um den freien Warenverkehr aufrecht zu erhalten. Es gibt die Initiative, die Beschaffung medizinischer Güter europäisch zu koordinieren. Es gibt ein Hilfsprogramm der EU für die besonders betroffenen Staaten. Es gibt den vernünftigen Beschluss, die europäischen Schuldenregeln auszusetzen. Das alles sind Hoffnungszeichen. Aber Europa wird noch deutlich mehr Solidarität und gemeinsame Lösungsfähigkeit aufbieten müssen. Besonders dringend brauchen im Moment unsere Freunde in Italien und Spanien unsere Hilfe. Dabei geht es zugleich um den Beweis, dass auf Europa Verlass ist, wenn es darauf ankommt. Nichts mehr würde den Salvinis, Orbans und Le Pens in die Karten spielen als die Unfähigkeit Europas zu Solidarität in der Krise.

Was müssen wir jetzt konkret schaffen? Erstens muss das EU-Krisenmanagement weiter verbessert werden. Dazu sollte die „Solidaritätsklausel“ der europäischen Verträge aktiviert werden, die einheitliches Handeln im Katastrophenfall erleichtert.

Zweitens muss die EU-Kommission als Hüterin der Verträge gerade jetzt die europäische Werte- und Rechtsordnung verteidigen: Indem sie die Integrität des Binnenmarktes schützt. Aber auch indem sie sich der Orban-Regierung in Ungarn entgegenstellt, die unter dem Deckmantel der Pandemiebekämpfung die weitere Demontage der ungarischen Demokratie betreibt. Ein Sanktionsverfahren gegen Ungarn nach Artikel 7 der EU-Verträge ist überfällig. Und auch finanzielle Sanktionen über den EU-Haushalt gehören auf die Tagesordnung.

Drittens muss Europa zügig finanzielle Solidarität organisieren. Das Nothilfeprogramm der EU ist ein Anfang, muss aber mit weiteren Mitteln aus dem EU-Haushalt und im Zweifel Zusatzbeiträgen der Mitgliedstaaten aufgestockt werden. Auch die Europäische Investitionsbank (EIB) muss noch deutlich stärker aktiviert werden, zum Beispiel indem sie einen Kreditgarantiefonds auflegt, der kleinen und mittleren Unternehmen gerade in jenen Ländern unter die Arme greift, die keine eigenen Förderbanken haben. Zudem sollte der Europäische Stabilisierungsmechanismus (ESM) scharf gestellt werden, wobei eines klar sein muss: Diese ESM-Hilfen müssen als solidarische Anti-Krisen-Hilfen gewährt werden – ohne die Sparauflagen, die man aus der Vergangenheit kennt.

Als weiteres Element muss der jüngste Vorschlag der EU-Kommission für einen 100 Milliarden Euro schweren europäischen Hilfsfonds hinzukommen, der nationale Kurzarbeiterprogramme europäisch stützt. Die Kommission greift damit eine sozialdemokratische Idee auf, die Finanzminister Scholz und sein französischer Kollege Le Maire zuletzt in die Debatte eingebracht haben. Zugleich ist klar: Diese Krise ist in ihrer weiteren Entwicklung kaum vorhersehbar. Deshalb ist es sinnvoll, auch neue Instrumente zu diskutieren und zu prüfen, wie etwa die Idee von Coronabonds oder andere Formen der gemeinsamen Kapitalbeschaffung, etwa für einen europäischen Wiederaufbaufonds. Diese mögen derzeit zwar in Europa nicht konsensfähig sein. Ideologische Scheuklappen und rote Linien helfen in dieser Krise aber nicht weiter.

Viertens muss die EU-Kommission einen Vorschlag für ein kraftvolles, solidarisches und nachhaltiges Wiederaufbauprogramm vorlegen, das Europa nach der akuten Gesundheitskrise wieder nach vorne bringt. Alle verfügbaren Ressourcen ebenso wie neue Eigenmittel der EU sollten dafür mobilisiert werden. Auf dieses Ziel muss auch der neue EU-Haushalt gerichtet sein, zu dem Deutschland jetzt umso mehr einen starken finanziellen Beitrag beisteuern muss.

Die Corona-Krise zeigt deutlicher denn je: Europa ist eine Schicksalsgemeinschaft. Wenn wir dieses gemeinsame Schicksal zum Positiven wenden wollen, müssen wir jetzt zusammenhalten und solidarisch handeln. Es geht wirklich um viel: Wir können Europa als Freiheits- und Wohlstandsraum nur gemeinsam erhalten.

Gastbeitrag von Achim Post für die Frankfurter Rundschau, erschienen am 06.04.2020