Nur ein souveränes Europa gestaltet eine kooperative Weltordnung

Ob Corona oder Klima: Die Europäische Union muss die Herausforderungen der gegenwärtigen Krisen für eine neue europäische Dynamik nutzen, um Europa zur führenden Gestaltungs- und Friedenskraft zu machen – egal, wie die Präsidentschaftswahl in den USA ausgeht.

Die Welt im Dauer-Krisenmodus: Erst Finanz-, dann Eurokrise, dann immer drängender die Klimakrise und nun die Corona-Pandemie. Zeitgleich greifen Populisten unsere regelbasierte Weltordnung an. Doch die Krisen zwingen auch zum Handeln und bieten so die Möglichkeit, eine bessere, nachhaltigere, sozialere und solidarischere Zukunft zu gestalten. Nutzen wir unsere Chance. Dafür brauchen wir ein starkes, souveränes Europa.

Ein souveränes Europa ist im Interesse Deutschlands

Nur im souveränen Zusammenschluss der EU können wir die politische, gesellschaftliche und ökonomische Handlungsfähigkeit Europas dort stärken, wo die Handlungsfähigkeit der einzelnen europäischen Staaten an Grenzen stößt. Nur ein souveränes Europa kann die Regeln der internationalen Zusammenarbeit selbst mitbestimmen, statt zum Spielball anderer Mächte zu werden. Nur ein souveränes Europa kann die Stärke des internationalen Rechts gegenüber dem Recht des Stärkeren verteidigen. Ein solches souveränes Europa liegt im elementaren Interesse Deutschlands. Statt nationale und europäische Souveränität gegeneinander aufzurechnen, sollten gerade wir Deutschen daher in ein weiter gestärktes souveränes Europa investieren.

Die Europäische Union ist alles in allem gut aufgestellt, um die Herausforderungen der Gegenwart anzugehen. Der Binnenmarkt ist eine große Erfolgsgeschichte, viele europäische Universitäten sind Spitzenklasse, die industrielle Basis und das technologische Knowhow sind vielfach vorhanden. Die Union und ihre Mitgliedstaaten sind eine tragende Säule vieler internationaler Organisationen und gemeinsam der größte Geber der Entwicklungszusammenarbeit. Auch der Euro hat Stabilität bewiesen. Auf diesen Stärken können und müssen wir aufbauen.

Die Erneuerung Europas ist nicht abgeschlossen

Inmitten der Corona-Pandemie haben Deutschland und Frankreich, vorbereitet durch die beiden Finanzminister Olaf Scholz und Bruno Le Maire, die Initiative ergriffen, um das europäische Einigungsprojekt einen entscheidenden Schritt voranzubringen. Die Beschlüsse zum europäischen Corona-Wiederaufbauprogramm sind ein historischer Fortschritt, den es nun unter Dach und Fach zu bringen gilt. Zugleich ist klar: Die notwendige Erneuerung Europas ist damit noch längst nicht abgeschlossen. Wir müssen stattdessen die Dynamik nutzen, um die institutionelle Architektur der Währungsunion weiterzuentwickeln und Europa als Ganzes zu stärken. Die Finanzierung des Wiederaufbaufonds aus gemeinsamen Anleihen und neuen europäischen Steuermitteln bietet dafür einen guten Anknüpfungspunkt.

Es gibt aber auch Bereiche, in denen Europa ins Hintertreffen zu geraten droht: Zukunftstechnologien wie die Künstliche Intelligenz und die neuste Generation von Hard- und Software werden zu selten in Europa entwickelt oder produziert. Noch können wir aufholen: Mit unserem Binnenmarkt und unserer regulatorischen Erfahrung können wir die Grundlage für einen dritten, datenschutzkonformen Weg der Nutzung und Entwicklung von Zukunftstechnologien einschlagen. Um im globalen Wettbewerb zu bestehen, braucht es zudem eine gemeinsame strategische Innovationspolitik, ein modernisiertes Kartellrecht und einen besseren Schutz des Binnenmarktes vor unlauteren Wettbewerbern.

Europa muss selbst Gestaltungskraft entfalten

Unabhängig davon, wie die US-Wahl am 3. November ausgeht zeigen die letzten Jahre teils schmerzhaft, dass wir Europäer uns nicht auf vermeintlich gegebene Partnerschaften verlassen können. Eine Abkehr von der transatlantischen Partnerschaft wäre absurd, aber Europa wird zunehmend lernen müssen auch selbst Gestaltungskraft zu entfalten, um bestehende Partnerschaften weiterzuentwickeln. Nur so kann es glaubwürdiger internationaler Verhandlungspartner sein. Mit effektiven Institutionen, kohärenter Außenpolitik, einer starken Wirtschaft und einer starken Währung kann und muss Europa selbst internationale Kooperation und Politik gestalten – und seine Werte und Interessen behaupten.

Die Welt um uns ändert sich rapide, nicht erst, aber nochmals massiv beschleunigt durch die aktuelle Corona-Krise. Europa hat in dieser sich wandelnden Welt die Wahl zwischen besserer Zusammenarbeit in einer souveränen Gemeinschaft oder einem Beobachterplatz bei der schleichenden Erosion der internationalen Ordnung. Wir können und müssen die Herausforderungen der gegenwärtigen Krisen für eine neue europäische Dynamik nutzen, um Europa zur führenden Gestaltungs- und Friedenskraft zu machen.

Gastbeitrag für den Vorwärts von Gabriela Heinrich, stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion und zuständig für Außen- und Verteidigungspolitik, Menschenrechte und wirtschaftliche Zusammenarbeit und Achim Post, stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion und Generalsekretär der Sozialdemokratischen Partei Europas (SPE).