Tagesspiegel-Gastbeitrag: “Warum dem europäischen Parlament Schaden droht”
Gastbeitrag vom SPE-Generalsekretär Achim Post für den Tagesspiel
Würde von der Leyen mit Stimmen von rechts außen im EU-Parlament gewählt, wäre das eine schwere Hypothek für die europäische Demokratie.
Die Europawahl 2014 war die Geburtsstunde des Spitzenkandidatenprinzips, das einer einfachen Logik folgt: Die europäischen Parteienfamilien treten mit gemeinsamen Spitzenkandidatinnen oder -kandidaten zur Wahl an. Kommissionspräsident wird anschließend, wer eine Mehrheit der Abgeordneten im Europäischen Parlament hinter sich versammeln kann. Zu diesem Prinzip hat sich das Europäische Parlament bekannt, ebenso die prägenden europäischen Parteienfamilien.
Sicherlich hat das Spitzenkandidatenprinzip dabei nicht in allen Ländern eine gleichbedeutend große Rolle gespielt, aber in der überwiegenden Zahl der EU-Mitgliedstaaten haben sich die Kandidaten den Bürgerinnen und Bürgern vorgestellt. Das hat die europäische Debatte belebt, Europa sichtbarer und den Wahlkampf spannender gemacht.
Auch wenn das Spitzenkandidatenprinzip bisher aus den europäischen Verträgen hergeleitet und nicht ausdrücklich in ihnen verankert ist: Es ist bei den Europawahlen zur gelebten Vertragswirklichkeit geworden. Und war somit eine wichtige Basis für die Wahlentscheidung von Millionen von Bürgerinnen und Bürgern.
Das Spitzenkandidatenprinzip war ein Erfolg – jedenfalls bis zu dem Zeitpunkt, an dem sich einige der Regierungschefs entschlossen haben, es wieder zu beerdigen. Keine Frage: Nicht alle der beteiligten Politiker sind von vorneherein mit diesem Ziel in die Verhandlungen gegangen. Im Ergebnis bleibt aber, dass die Spitzenkandidatinnen und -kandidaten zu schnell und zu leichtfertig ins Abseits gestellt wurden.
Hinzu kommt: Wenn es dann auch noch die Rechten um Orban, Kaczynski, Salvini und Co. sind, die den übrigen Regierungschefs den kleinsten gemeinsamen personellen Nenner diktieren, dann läuft etwas grundlegend falsch.
Mehr als eine Personalfrage
Dass nun den verdutzten europäischen Wählern ein Personalvorschlag vorgelegt wird, der sämtliche Spitzenkandidaten außen vor lässt, ist ein Wortbruch, der dem Ansehen der europäischen Politik bleibenden Schaden zufügen kann. Bei der Wahl im Europäischen Parlament geht es deshalb um deutlich mehr als um eine Personalfrage. Es geht auch und vor allem um den Wert des Parlamentarismus in Europa und die Frage, ob das Parlament gestärkt oder massiv geschwächt in die neue europäische Legislaturperiode startet.
Statt vorschnell klein beizugeben, sollten die Parlamentarier jetzt eigenständig im Sinne ihres parlamentarischen Mandats entscheiden. Das stellt viele Abgeordnete vor eine schwierige Entscheidung. Doch es ist auch die große Chance, ein Signal für einen lebendigen Parlamentarismus in Europa zu setzen.
Und mit Blick auf die große Koalition in Deutschland sei an dieser Stelle gesagt: Die Causa von der Leyen ist keine Koalitionsfrage. Im Koalitionsvertrag ist ausdrücklich geregelt, dass die Koalitionspartner bei der Europawahl gemäß der Zugehörigkeit zu ihren jeweiligen europäischen Parteienfamilien antreten. Da wäre es ja geradezu widersinnig, wenn das nach der Wahl nicht mehr gelten würde und die Koalitionspartner dann nur noch ein und denselben Kandidaten oder dieselbe Kandidatin unterstützen dürften.
Der Geist des Koalitionsvertrages ist ein anderer, indem er das Prinzip der politischen Konkurrenz festschreibt. Deshalb sollten wir die Entscheidung auf der europäischen Ebene auch als das betrachten, was sie ist: eine Entscheidung des Europäischen Parlamentes über einen Personalvorschlag des Europäischen Rates. Nicht mehr und nicht weniger.
Sagt das Europa-Parlament Nein, wäre auch nicht eine europäische Verfassungskrise die Folge, vor der manche nun warnen. Vielmehr hätte Europa eine zweite Chance, mehr Demokratie zu wagen. Die Regierungschefs müssten dem Parlament einen neuen Vorschlag unterbreiten, so wie es die Verträge vorsehen.
Und sie täten gut daran, dann nicht ein weiteres Mal die führenden Spitzenkandidatinnen und Spitzenkandidaten zu übergehen – gerade Manfred Weber, Frans Timmermans und Margrethe Vestager als Vertreter der drei stärksten Parteienfamilien im neuen Europäischen Parlament. Mindestens einmal sollte das Parlament die Gelegenheit haben, über eine oder einen dieser Spitzenkandidaten auch tatsächlich abzustimmen.
Eine Wahl mit Stimmen von rechts außen
Nun mag es sein, dass alles anders kommt und Frau von der Leyen zur neuen EU-Kommissionspräsidentin gewählt wird. Zwar erscheint es höchst zweifelhaft, dass sie eine Mehrheit allein mit den Fraktionen aus der Mitte des Parlaments hinter sich vereinen kann. Zu groß sind die Vorbehalte gerade bei vielen Sozialdemokraten, den Grünen und Linken. Zu wenig haben ihre bisherigen Auftritte im Europäischen Parlament überzeugt. Allerdings zeichnet sich mehr und mehr ab, dass jene rechten und rechtsnationalen Parteien, deren Regierungen schon die Nominierung von Frau von der Leyen unterstützt haben, sie nun auch im Parlament mitwählen könnten.
Anstatt dies stillschweigend in Kauf zu nehmen, sollte Frau von der Leyen unmissverständlich erklären, dass sie aus der Mitte des Parlaments heraus gewählt werden will – und keinesfalls mit den Stimmen der Rechten und Rechtsnationalen um Orban, Kaczynski, Salvini und Co. Eine Wahl mit Stimmen von rechts außen wäre mehr als ein Makel für die neue Kommission, es wäre eine schwere Hypothek für die europäische Demokratie.
So sehr Frau von der Leyen persönlich glaubwürdig für ein geeintes Europa stehen mag und so sehr es grundsätzlich auch erfreulich wäre, wenn nach Jahrzehnten wieder jemand aus Deutschland an der Spitze der EU-Kommission stünde – der Schaden, den der europäischen Parlamentarismus zu nehmen droht, wiegt alles in allem schwerer. Ich jedenfalls will kein Europa, in dem Parlament und Kommission an den Strippen der Regierungschefs hängen, sondern selbstbewusste Institutionen, die im europäischen Interesse handeln und, wo nötig, den Regierungen auch Paroli bieten.