Nur ein Weg führt aus dieser gewaltigen Krise

Gastbeitrag von Martin Schulz und Achim Post zum EU-Gipfel für T-Online

Europa wird nur aus der Krise kommen, wenn die europäischen Staaten eng zusammenarbeiten. Diese alte Wahrheit ist in der Corona-Krise so deutlich geworden wie lange nicht. Mehr als 100.000 Menschen haben ihr Leben verloren, Millionen Beschäftigte ihre Arbeit. Und wie verheerend die wirtschaftlichen Folgen sind, können wir bislang nur erahnen: Allein die deutschen Exporte sind um über 30 Prozent gesunken. Unsere Volkswirtschaft wird 2020 wahrscheinlich den tiefsten Einbruch seit der Nachkriegszeit erleben. Für die Eurozone rechnet die Europäische Kommission dieses Jahr mit einem Wirtschaftseinbruch von 8,7 Prozent.

Nicht alle Länder Europas sind dabei gleich betroffen. Italien, das Land, das mit am schwersten von der Pandemie erfasst wurde, rechnet mit einem Einbruch seiner Wirtschaftsleistung um 11,2 Prozent. Für Deutschland rechnen Experten mit 6,3 Prozent. Dass die Rückgänge in manchen Ländern besonders dramatisch sind, hat nichts mit unseriöser Wirtschafts-, Sozial- oder Haushaltspolitik zu tun, wie uns einige Länder unter dem Decknamen “Sparsame Vier” weismachen wollen. Sie sind das Ergebnis einer globalen Pandemie-Krise, auf die niemand in der Welt vorbereitet war, und die einige Länder unverschuldet härter getroffen hat als andere.

USA und China können uns nicht aus der Krise ziehen

Gleichzeitig verändert sich die Welt außerhalb Europas in einer rasanten Geschwindigkeit. Populisten in den USA und Brasilien stehen vor einem Scherbenhaufen aus täglich neuen Rekordzahlen von Corona-Fällen und -Toten bei gleichzeitigem Einbruch der Wirtschaftsleistung. Der Deal, Wirtschaft über Menschenleben zu stellen, geht nicht auf. Andernorts agiert China zunehmend nationalistisch, man denke nur an die Umsetzung des sogenannten “Sicherheitsgesetzes” in Hongkong. Weder die alte Führungsmacht USA noch China, die “Weltwirtschaftslokomotive von 2008”, können uns aus dieser Krise ziehen. Europa muss und kann sich nur selbst helfen.

Die alte Logik, dass die dafür notwendige finanzielle Hilfe in Europa nur geleistet wird, wenn gleichzeitig auch wirtschaftliche Sparmaßnahmen verordnet werden, war schon immer fehlgeleitet. Als Antwort auf die Corona-Krise ist diese Logik sogar zynisch. Die Bekämpfung der Folgen der Pandemie gelingt nur über echte Solidarität. Es geht beim Wiederaufbaufonds um nichts weniger als den Nachweis, dass wir in Europa bei Krisen zusammenhalten und einander nicht im Stich lassen. Es geht um eine solidarische und europäisch koordinierte Investitionsoffensive.

Die ersten Schritte, die die Staaten der Eurozone gerade auch aufgrund der Arbeit von Bundesfinanzminister Olaf Scholz gegangen sind, waren ein erstes wichtiges Signal. Die Kombination aus Krediten aus dem Europäische Stabilitätsmechanismus, der Arbeitslosenrückversicherung SURE und den Krediten der Europäischen Investitionsbank waren elementar, um die europäische Wirtschaft am Leben zu erhalten und sicherzustellen, dass alle Staaten schnell auf die ersten Einbrüche reagieren konnten.

Echte Zuschüsse für hart getroffene Staaten

Im Zentrum des Wiederaufbauprogramms müssen nun echte Investitionszuschüsse für die besonders hart von der Krise getroffenen Staaten stehen. Der europäische Wiederaufbaufonds muss ein Wegweiser Richtung Zukunft sein: Indem er die Gesundheitssysteme stärkt, für einen verbesserten Klimaschutz sorgt oder für den Ausbau von Zukunftstechnologien in den jeweiligen Ländern genutzt wird.

Und indem die Mitgliedsstaaten der Europäischen Kommission echte Eigenmittel zugestehen, die die Kommission handlungsfähiger und Europa nachhaltiger machen, wie es unter anderem bei Einnahmen aus dem Emissionshandel oder aus einer Plastiksteuer der Fall wäre. Der Wiederaufbaufonds muss den mehrjährigen Finanzrahmen ergänzen; wir brauchen kurzfristige Impulse um aus dem Tief zu kommen und eine langfristig angelegte Transformation der Wirtschaft vor dem Hintergrund von Klimawandel und Digitalisierung. Um all das wird es beim Europäischen Rat diese Woche gehen.

Europa weiterentwickeln, um es zu erhalten

Wir müssen Europa weiterentwickeln, wenn wir es erhalten wollen. Hierbei geht es um mehr als Investitionen. Es geht um die Vervollständigung der Europäischen Union zu einer echten Fiskal-, Finanz- und Wirtschaftsunion, und natürlich zu einer echten politischen Union. In den kommenden Wochen und Monaten muss gerade auch die deutsche Regierung im engen Schulterschluss mit dem Europäischen Parlament und Kommission sicherstellen, dass Europa und seine Währung sicher und stabil aus dieser Krise herauskommen. Die Verantwortung Deutschlands ist gerade auch während der deutschen Ratspräsidentschaft immens hoch.

Beim kommenden EU-Gipfel müssen Brücken für Fortschritt in Europa gebaut werden, statt der europäischen Integration Steine in den Weg zu legen. Der notwendige Gleichklang von mehr Integration und Verantwortung kann gelingen, wenn im Angesicht der Bedrohung durch Corona jetzt die Chance zu ehrgeizigen Reformen ergriffen wird. Diese umfassen unter anderem auch eine bessere Koordinierung der europäischen Wirtschafts- und Investitionspolitik, perspektivisch durch die Schaffung eines starken europäischen Finanz-, Wirtschafts- und Investitionsministers, sowie endlich die Vollendung der Bankenunion.

Die zivilisatorische Errungenschaft der freiwilligen Union der Staaten Europas sichert uns nunmehr seit mehr als vierzig Jahren den Frieden auf unserem Kontinent. Sie war in den vergangen vierzig Jahren noch nie so gefordert und gefährdet wie heute. Aber: Gleichzeitig war auch ihre Notwendigkeit nie höher und die Chance, sich Europas Bürgern und der Welt als Garant von Frieden, Wohlstand und Demokratie zu beweisen, nie besser.

Zuerst erschienen auf T-Online